Wir sitzen nicht im selben Boot. Die Wiederentdeckung der Kreise

Einer der Wege, mit den Corona-Einschränkungen umzugehen, ist die Wiederentdeckung des Kreises – der Begegnung im kleinen Rund. Im 21. Jahrhundert geht das auch auf digitale Weise. Unter dem Motto CoronaCircles wird dazu eingeladen, selbst kleine Gesprächsgruppen zu gründen um in der Krise die Kraft der Gemeinschaft zu spüren.

Dieser Text wurde erstmals am 27. April 2020 als Blogeintrag auf Englisch auf https://circlesofwisdomblog.wordpress.com/ veröffentlicht, sowie auf der Blogseite von Info3 unter https://info3-verlag.de/blog/corona-circles-die-kraft-der-kreise-in-der-krise/ und anschließend als Artikel in der Printausgabe der Info3, Ausgabe Juni 2020.

Eine der Auswirkungen der gegenwärtigen Corona-Situation liegt darin, dass wir erkennen, wie vernetzt wir als Menschheit sind. Noch nie zuvor waren wir so offensichtlich weltweit und gleichzeitig von einer so unerwarteten, globalen Herausforderung betroffen. Noch nie zuvor wurden in so kurzer Zeit so einschneidende Maßnahmen in so großem Maßstab ergriffen.

Aber nicht alle Menschen auf dieser Welt sind gleichermaßen betroffen. Der britische Autor Damian Barr formulierte es recht treffend: „Wir sitzen nicht im selben Boot. Wir sind im selben Sturm. Manche sitzen auf einer Yacht, andere haben nur ein Ruder.“ Wir lernen jedoch zu erkennen, dass wir als Menschheit eins sind. Was einen einzigen Menschen belastet, wirkt sich auf andere aus, auch wenn sie womöglich meilenweit entfernt sind. Was jetzt geschieht, kann als ein Weckruf verstanden werden, nicht zu dem zurückzukehren, was als normal galt. Veränderung tut not.

Es gab schon immer ein großes Potenzial für Veränderungen in kleinen Gruppen. Obwohl es nicht immer leicht ist, miteinander auszukommen, wenn wir gemeinsam etwas Neues schaffen, können wir uns in unseren Höhen und Tiefen durch das, worauf die Anthropologin Margaret Mead hingewiesen hat, ermutigt und inspiriert fühlen: „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe nachdenklicher, engagierter Bürger die Welt verändern kann: Es ist in der Tat das Einzige, was die Welt jemals verändert hat.“

Seit Anbeginn der Zeit kommen Menschen in Kreisen zusammen, um über sich selbst und ihre Anliegen zu sprechen. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sind viele selbstorganisierte Übungsgemeinschaften und Netzwerke entstanden, die darauf basieren, dass eine Gruppe von Menschen sich im Kreis trifft. Die angewandten Methoden variieren je nach den Bedürfnissen und dem Zweck der Treffen. Inzwischen steht ein großer Werkzeugkasten an Methoden für den Austausch, das tiefe Zuhören und den Zugang zu Weisheit zur Verfügung. Einige davon, die ich in unterschiedlichen Situationen verwende, seien hier genannt: Weisheitskreis, Herzrunden, Collective Presencing, Open Space, World Café, Circle Way, Case Clinic, systemische Aufstellungen und das Flow Game.

Es ist nicht verwunderlich, dass mehrere dieser Methoden zurzeit für Online-Treffen aufgearbeitet wurden und somit unterschiedlichste Gruppenzusammenstellungen entstehen: lokal, regional, national, international, global. Sie ermöglichen es, dass Menschen voneinander hören, neue Perspektiven gewinnen und aus den Erfahrungen der anderen lernen können.

Wenn wir uns mit einer existenziellen Krise konfrontiert sehen, scheint es mindestens vier Phasen oder Zustände zu geben, die wir erleben. Sie sind nicht unbedingt linear-konsekutiv zu verstehen, da sie sich überschneiden und wiederholen können. Man könnte sie wie folgt beschreiben:

1. Akzeptieren, was geschieht: Während wir sehen, wie Systeme, Gewohnheiten und Gewissheiten zusammenbrechen oder sich auflösen, lassen wir Schmerz, Trauer und Schock zu und verleihen dem, was uns passiert, Ausdruck.

2. Sinngebung: Wenn wir Mehrdeutigkeit und Ungewissheit erfahren, versuchen wir, unseren Erfahrungen einen Rahmen und einen Sinn zu verleihen.

3. Neue Formen, Haltungen und Werte entstehen lassen: Wir versuchen, Wege und Mittel zu finden, im Ungewissen trotzdem zu handeln. Als eine Folge von Zusammenbruch, Chaos, Druck, Sinnstiftung, visionärer Kraft beziehungsweise innerer Ausrichtung werden dabei neue Möglichkeiten sichtbar.

4. Diesen neuen Wegen Form und Gestalt geben.

Wenige Tage nach dem Anfang des globalen Lockdowns am 23. März 2020 veröffentlichte Brian Stout einen interessanten Online-Artikel mit dem Titel Turning toward: connecting under quarantine. On the transformative potential of small groups. Am Schluss seiner Überlegungen kam er zu der folgenden Feststellung: „Lasst uns wieder Verbindung miteinander aufnehmen. Da es zurzeit physisch nicht möglich ist, müssen wir Wege finden, wie wir die Technologie nutzen können, um Vertrauen aufzubauen, Beziehungen zu vertiefen und zusammenzuarbeiten. Notgedrungen sind wir plötzlich von den Grenzen der Geografie befreit: Die ganze Welt ist jetzt eure kleine Gruppe.“

Sinngebung und Neugestaltung beginnen damit, dass wir unsere Geschichten, Sorgen und Anliegen miteinander teilen. Eine kleine Gruppe, der ich angehöre, hat eine neue Plattform namens CoronaCircles entwickelt. Sie soll es ermöglichen, sich ganz einfach online in einem kleinen Kreis zu treffen und einander jenseits der geographischen Grenzen und der eigenen Filterblase in Zeiten der Krise und des Wandels achtsam zuzuhören. Für uns ist es ein erster Schritt auf dem Weg der persönlichen und kollektiven Bewältigung der momentanen globalen Krise. ///

 

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