Macht – Lernen an den Bruchkanten kollektiver Führung

Macht zeigt sich selten nur in Hierarchien oder klaren Befehlsstrukturen – sie wirkt in Zwischenräumen: in Blicken, in unausgesprochenen Erwartungen, in Rangordnung, in Schweigen und Eingreifen.

Der Summit „Führung.Macht.Wandel“ brachte vom 17. bis 21. September 2025 rund vierzig Menschen auf dem Gelände der Gemeinschaft „wir bauen zukunft“ in Mecklenburg zusammen, um neue Formen von Führung für eine sozialökologische Transformation zu erkunden – und wurde zugleich selbst zu einem Erfahrungsraum, in dem sich alte und neue Muster von Macht verdichteten.

Einladung und Erwartung

Die Einladung zum Summit weckte hohe Erwartungen:
- gemeinsam zu erforschen, welche Formen von Führung und Macht dem Leben dienen,
- Räume gegenseitiger Ermächtigung zu erleben,
- und lebendige, regenerative Führung praktisch zu erproben.

Es war das Anliegen 50 Pionier:innen, Change-Maker:innen und Gesellschaftsentwickler:innen aus der sozial-ökologischen Transformationsbewegung zusammen zu bringen. Menschen, die nicht nur über Wandel sprechen, sondern ihn auch leben und sichtbar machen. Die meisten Pioniere, die als geladene Gäste bis kurz vorher auf der Website genannt wurden, kamen allerdings nicht.

Viele Teilnehmende brachten die Hoffnung mit, dass hier ein geschützter Raum entsteht, in dem Ambivalenzen gegenüber Führung – geprägt von Erfahrungen mit Dominanz, Machtmissbrauch oder Konfliktscheu – offen angesprochen und in ein neues Miteinander verwandelt werden können.​

Formale Delegation, diffuse Macht

In der Vorbereitungszeit wurde die Verantwortung für Design und Moderation formal von Lino als Initiator an ein Moderationsteam übergeben. Das entsprach der Absicht, eine „lebendige Kultur“ zu fördern, in der nicht eine Person, sondern viele die Verantwortung für Prozess und Raum tragen. Gleichzeitig blieb die Machtbalance diffus:
- Der Initiator beobachtete und kommentierte,
- das Team arbeitete engagiert,
- doch die Rollen waren nicht klar genug abgestimmt.

Damit fehlte ein zentraler Baustein lebendiger Kultur: psychologische Sicherheit auf der Basis klarer Mandate und transparenter Verantwortung. Diese Unschärfe wurde zum Nährboden für spätere Machtergreifung, Entmächtigung und Verunsicherung.​

Machtergreifung und Entmächtigung

Der Schwerpunkt verschob sich zunehmend:
- Der Initiator übernahm moderierende und steuernde Rollen,
- brachte eigene innere Führungs-Konflikte in Untergruppen - und nachher auch in der Gesamtgruppe - ein,
- und orientierte den Prozess zunehmend an seinen Anliegen und Perspektiven.

Das Moderationsteam zog sich Schritt für Schritt zurück oder verlor sichtbar an Handlungsfähigkeit. Stimmen aus der Gesamtrunde, die den Prozess strukturieren oder klären wollten, setzten sich nur punktuell durch. So entstand der Eindruck einer Machtergreifung auf der einen und einer Entmächtigung auf der anderen Seite.

Einige Teilnehmende erlebten diese Entwicklung als Einladung zu radikaler Selbstorganisation und sahen im entstehenden „Chaos“ ein Feld der Selbstermächtigung. Andere erfuhren dieselben Vorgänge als Verlust von Orientierung, als Unsicherheit, ob eigene Beiträge überhaupt erwünscht oder wirksam sind. Beide Perspektiven sind Teil desselben Feldes: Macht wurde nicht nur abgegeben, sondern auch informell wieder an sich gezogen.

Somatische Trigger: fight, flight, freeze, fawn, faint

Je deutlicher die Spannungen wurden, desto sichtbarer wurden die unterschiedlichen Reaktionsweisen der Beteiligten – individuell, und zugleich spürbar im kollektiven Raum:

Fight (Kampf): Einige reagierten mit Widerspruch, Unterbrechungen oder symbolischen Aktionen wie einem ausgerufenen „Streik“ im Küchenbereich. So wurde Protest sichtbar, und es entstand punktuell eine kraftvolle, wenn auch polarisierende Gegenmacht.

Flight (Flucht): Andere zogen sich in Kleingruppen oder innerlich zurück. Sie entzogen sich der Hauptbühne, um Distanz zu gewinnen.

Freeze (Erstarrung): Besonders im Moderationsteam zeigte sich eine Form von Lähmung: Sie wussten nicht mehr, ob sie noch führen, eingreifen oder sich zurückhalten sollten. Entscheidungsfähigkeit und Klarheit gingen verloren.

Fawn (Gefälligkeit): Manche passten sich an, blieben höflich, zurückhaltend, weich. Konflikte wurden vermieden, kritische Impulse abgeschwächt, um die fragile Harmonie nicht weiter zu stören.

Faint (Ohnmacht): Für einige wurde die Situation emotional oder körperlich so belastend, dass Überforderung, Erschöpfung oder Rückzug aus gesundheitlichen Gründen spürbar wurden.

Diese Muster sind Ausdruck eines komplexen psychischen und sozialen Systems, das versucht, in einem unstimmigen Machtfeld Kohärenz zu bewahren oder wiederzufinden. Sie zeigen, wie stark Machtfragen auf Nervensystem und Beziehungsgewebe wirken. Dabei entsteht das paradoxe Bild eines Systems, das sich bemüht, in einem fragilen Gleichgewicht Halt zu finden, obwohl die zugrunde liegenden Konflikte und Unsicherheiten zwar von vielen gespürt, aber nicht von allen vollständig verstanden oder erkannt wurden. Als es gegen Ende zur öffentlichen Aufklärung über innere Prozesse der Einzelnen und Dynamiken im Team der Verantwortlichen kam, wurde zwar einiges dadurch leichter nachvollziehbar und klarer, aber das Gefühl für ein Experiment missbraucht zu sein verstärkte sich dadurch sogar noch bei manchen Teilnehmenden.

Chancen kollektiver Führung – und ihre Begrenzungen

Trotz aller Spannungen zeigte das Summit auch Momente gelingender kollektiver Führung:

Ein Ältestenrat formierte sich als eigenständiger Resonanz- und Reflexionsraum. Hier wurde Verantwortung übernommen, Zuhören praktiziert, wurden Gefühle und Deutungen geteilt. Das stärkte punktuell psychologische Sicherheit und Selbstermächtigung. Als diese Gruppe sich am Abend – wie bei einem Sketch - in die Mitte des Kreises stellte und über ihre Erfahrungen und Beobachtungen humorvoll, aber dennoch auch mit einem klaren Urteil, sprach, stieß dies auf Resonanz und Wertschätzung. Das Gefühl fehlender Orientierung in der heutigen Zeit wurde zum Ausdruck gebracht. Der Ruf nach Ältesten wurde formuliert.

In der spontanen gemeinsamen Übernahme von Küchen- und Putzarbeiten – nach einem angekündigten „Streik“ – entstand eine überraschend leichte, festliche Atmosphäre. Selbstorganisation zeigte dort ihre lebendige, verbindende Kraft.

In einigen Plenen, in der Abschlussrunde und in kleineren Gesprächsräumen wurden Wut, Verletzung und Enttäuschung ausgesprochen. Menschen, die sich zuvor ohnmächtig fühlten, fanden ihre Stimme wieder.

Die umgebende Natur wurde von einigen Teilnehmenden partnerschaftlich einbezogen und somit als Spiegel des Lebendigen ernstgenommen.

Gleichzeitig wurden zentrale Voraussetzungen kollektiver Führung deutlich unterlaufen:

Lebendige Balance von Struktur und Offenheit: Die bewusste Balance zwischen Klarheit und Emergenz – ein Kernbaustein lebendiger Kultur – blieb an entscheidenden Stellen aus. Weder waren Struktur und Verantwortungen verbindlich geklärt, noch wurde die entstehende Offenheit konsequent kollektiv gehalten.

Spannungen als Potenzial: Spannungen wurden zwar intensiv erlebt, aber nicht durchgängig als gemeinsame Lernfelder gerahmt. Tools, die diese Energie konstruktiv hätten aufgreifen können, wurden nicht konsequent zum Wohle aller genutzt, obwohl viel Expertise im Raum war.

Psychologische Sicherheit: Immer wieder fehlte das Gefühl, mit Zweifeln, Kritik oder Verletzlichkeit wirklich sicher zu sein. In einer Atmosphäre, in der manche sich als „Laborratten“ erlebten und andere sich nicht trauten, ihren Platz klar einzunehmen, blieb kollektive Führung fragil.

Übergänge: Führen, Loslassen – und die Zwischenräume

Ein zentrales Learning, das sich aus dieser Erfahrung ableiten lässt, ist: Die Frage ist weniger „Führen oder loslassen?“, sondern: Wie benennen und gestalten wir die Übergänge dazwischen – bewusst, transparent und mit Haltung, mit Wertschätzung für das kreative Chaos und die Notwendigkeit des Ordnenden durch Führung.
Wenn Führung ohne klare Kommunikation losgelassen oder nicht wirklich übernommen wird, entsteht nicht automatisch Freiheit, sondern eher Verunsicherung.
Wenn Führung ohne Abstimmung (wieder) ergriffen wird, erzeugt sie nicht automatisch Halt, sondern leicht neue Formen von Dominanz.

Kollektive Führung braucht daher:
- klare, abgestimmte Mandate,
- Transparenz darüber, wer wann welche Rolle übernimmt,
- wie und von wem Entscheidungen getroffen werden,
- und die Bereitschaft, Spannungen offen anzusprechen, statt sie im Feld wirken zu lassen.

Vom Summit in die Gesellschaft

Die Dynamiken dieses Summits werfen ein Schlaglicht auf größere gesellschaftliche Felder. Auch dort versucht ein System, seine Stabilität zu bewahren, während tiefere Bruchlinien – z.B. soziale Ungleichheit, rassistische Strukturen, Vertrauensverlust in Institutionen – zwar gespürt, aber nicht von allen erkannt und bearbeitet werden. Wie bei dem Treffen entstehen dann:​
- Regionen scheinbarer Normalität,
- Zonen der Überforderung,
- und Inseln mutiger Selbstermächtigung.

Die Einladung, die aus dieser Erfahrung gelesen werden kann, lautet:
- Macht und Führung nicht nur zu kritisieren, sondern sie bewusst und dienend zu gestalten.
- Führung nicht zu vermeiden, sondern sie zu teilen, transparent zu machen und immer wieder neu auszuhandeln.​
- Räume so zu bauen, dass psychologische Sicherheit, klare Strukturen, lebendige Offenheit und der ganze Mensch tatsächlich willkommen sind – wie es die „10 Bausteine lebendiger Kultur“ * skizzieren, und wie es im gelebten Alltag doch immer wieder schwer ist umzusetzen.​

Ausblick: Macht als Lernfeld

Dieser Summit war kein fertiges Modell gelingender kollektiver Führung, sondern ein intensives, aufrüttelndes Lernfeld:
- Es zeigte, wie schnell alte Machtmuster in neue Räume hineinwandern.
- Es machte sichtbar, wie tief Trigger und Schutzreaktionen verankert sind.
- Und es eröffnete zugleich Inseln echter Selbstermächtigung, Verbundenheit und gemeinsamer Verantwortung.

Die Einladung galt einem Labor zum Thema Macht und Führung. Somit ist der Summit nicht gescheitert, sondern bot ein gnadenlos ehrliches Spiegelbild: wie anspruchsvoll es ist, eine lebendige Kultur und kollektive Führung wirklich zu verkörpern – und wie notwendig, sich genau diesem Spannungsfeld zuzuwenden.

* https://linozeddies.de/blog/10-bausteine-lebendiger-kultur

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